Der Ausflug mit Rosi
Nach 600 Kilometern mit dem Mercedes 190 SL öffnen sich alle Sinne.
Jedes Jahr nehme ich an der „Perlenausfahrt“ teil, eine Ausfahrt über zwei Tage, die insgesamt ca. 600 Kilometer lang ist. Die Route ist atemberaubend, sie startet von Dietramszell in Oberbayern, über Tirol zum Großglockner, über den Reschenpass nach Slovenien und zuletzt über Garmisch-Patenkirchen wieder nach Hause. Am Start sind 80 Teilnehmer mit ihren 40 „Perlen“. Meine Perle ist dieses Jahr die Rosi.
Meine Rosi, 1959 gebaut und eine von 25.881 Mercedes 190 SLs. Es ist ein 1,9 Liter Motor mit 77 kW (105 PS) verbaut und angetrieben wird sie mit einem voll synchronisiertem Vierganggetriebe mit dem Mercedes-typischen Heckantrieb. Den Bremsvorgang vollzieht sie mit hydraulisch betätigten Trommelbremsen auf beiden Achsen. Als Sonderausstattung hat sie ein Heiz- und Defrost-Gebläse, einen ATE-T-50 Bremskraftverstärker, Lichthupe, Scheibenwaschwasser, Weißwandreifen, Becker-Radio mit Antenne und Stoßstangenhörner. Gurte, Nackenstützen oder gar Servolenkung wurden damals nicht angeboten. ABS, Airbags und Spurhalteassistent liegen da noch in weiter Ferne.
Die ersten 100 bis 200 Kilometer sind die Schönsten, Passanten stauen und sehen einem nach, winken oder halten sogar den Daumen nach oben. Nach 300 Kilometer, also am Ende des ersten Tages und nach Hälfte der Strecke, merke ich jedoch, dass das Fahren mit einem Oldtimer ziemlich harte Arbeit ist. Schultern und Nacken machen sich schmerzlich bemerkbar. Im Parkhaus des Hotels, kann ich nicht wie gewohnt, die Heckdeckelautomatik betätigen, aussteigen, mein Gepäck aus dem Kofferraum holen und mit der Funkfernbedienung absperren. Nein, ich muss aussteigen, den Schlüsselbund mitnehmen, den passenden Schlüssel für den Kofferraum suchen und aufsperren. Den Kofferraumdeckel muss ich mit einer Hand aufhalten und mit der anderen das Gepäck raus hieven. Zum Absperren der Türen, suche ich wieder den passenden Schlüssel.
Einigermaßen erholt soll es am nächsten Vormittag weiter auf den Großglockner gehen. Das Wetter ist wunderschön und lädt zum Cabriofahren ein. Einige Teilnehmer haben am Vorabend ihre Sorge geäußert, ob die betagte Rosi den Großglockner „packt“. Sämtliche Abkürzungen wurden uns vorgeschlagen, aber no way! Rosi schafft das !
Rauf auf den Großglockner, überwiegend im ersten und zweiten Gang. Alle anderen Teilnehmer ziehen mitleidig zuwinkend an uns vorbei. Klar, sieht und hört man, dass sich Rosi plagt, aber mehr und mehr spielen wir uns ein. Das Kupplungs-Gasgeben-Gefühl verbessert sich und ich gewöhne mich an ihre sahnetorteartigen Straßenlage in den Kurven. Am obersten Parkplatz angekommen, werden wir von den anderen Teilnehmern sehnsüchtig empfangen. Ich verkünde, dass sich Rosi tapfer geschlagen hat.
Nach einer kurzen Pause geht es wieder bergab. Durch Rosis aerodynamischer Form und ihrer 1180 Kilogramm schweren Stahlblech-Karosserie, bekommen wir ordentlich Tempo zusammen. Wir sausen die Passstraßen runter und halten mit den anderen Teilnehmern gut mit. Rosi und ich sind ein super Team, ich jage sie etwas flotter in die Kurven. Die Bremsvorgänge vor den Kurven sind kurz und intensiv, ihre Reifen quietschen. Rosi und ich fliegen regelrecht, was gibt es Schöneres als Fliegen ?! Rosi hat Trommelbremsen und durch die starke Beanspruchung überschreitet die Bremsflüssigkeit den Siedepunkt, sie muss bereits kochen. Das macht sich beim nächsten Bremsen unangenehm bemerkbar, ich trete ins Leere. Mein Gedanken kreisen nun um die optimale Schadensbegrenzung. Auf welches der Fahrzeuge vor mir fahre ich am besten hinten drauf? Welches ist nicht ganz so teuer und selten? Bei welchem sind noch Ersatzteile verfügbar? Um welches ist am wenigstens schade? Zum Glück wird die Strecke flacher und gerader, sodass sich der Bremsdruck wieder langsam aufbaut. Als wir uns nach 25 Kilometer einigermaßen erholt haben, treffen wir uns wieder mit den andern Teilnehmern. Mit qualmenden und rauchenden Bremsen fahren wir auf den Parkplatz.
Der Spaßfaktor ist enorm, jedoch ist Rosi für so eine Belastung nicht ausgelegt. Hinzukommt, dass die Bremsflüssigkeit schon mehrere Jahrzehnte alt sein muss und in Kombination mit abgelagerter Luftfeuchtigkeit kommt es zu so einer Überhitzung.
Eine längere Ausfahrt mit einem klassischen Fahrzeug, das über keine Assistenzsysteme verfügt, öffnet sämtlich Sinne beim Fahren. In den nächsten Tagen hatte ich ein viel aufmerksamerers Gefühl beim Fahren mit meinem modernen Auto. Mit Rosi ist es gar nicht möglich nebenbei was anderes zu machen, wie z.B. das Telefon bedienen. Moderne Assistenzsysteme bieten mehr Sicherheit und Komfort, wenn jedoch der Fahrer dadurch komplett abstummpft, können diese das Schlimmste auch nicht verhindern.
War ein abenteuerlicher und toller Ausflug mit einem Traumauto :-).